«Es ist etwas Besonderes, ein Rüebli aus der Erde zu ziehen»

05.12.2022

Miriam und Simon Crescente versorgen sich ganzjährig mit Gemüse, Früchten und Kräutern aus dem eigenen Garten. Die beiden verarbeiten jede Beere, jeden Knollen und fast jedes Blättchen aus Miriams Garten zu gesunden Delikatessen für die ganze Familie. Wir haben mit den beiden im August 2022 über Selbstversorgung, Urban Gardening und nachhaltige Ernährung gesprochen.

Interview: Anina Torrado Lara
Fotos: Anna-Tina Eberhard

Miriam und Simon, ihr meldet euch aus dem hohen Norden. Wo seid ihr gerade?

Simon: Wir sind seit einer Woche im südfinnischen Sjundeå auf einem kleinen Bauernhof mit ebenso kleiner Sauerteigbäckerei. Hier schauen wir auf die zwei Pferde Melli und Wilhelmina, vier Schafe, acht Hennen und zwei Güggel.

Miriam: Das ist unsere erste Workaway-Erfahrung – ein lang gehegter Traum! Wir misten die Ställe aus, striegeln und füttern die Tiere, giessen die Pflanzen und gucken in den zwei Gewächshäusern, was es zu ernten gibt. Dafür dürfen wir gratis in einem wundervollen alten Holzhaus bei Johanna wohnen.

Das klingt wie aus dem Bilderbuch! Was gibt’s aktuell zu ernten?

Simon: Beeren! Es macht richtig Spass, diese mit den Kindern abzulesen. Aus Johannisbeeren mache ich Gelee, Saft und Sirup. Heute habe ich sie auch ins Sauerteigbrot eingearbeitet.

Miriam, du bist leidenschaftliche Gärtnerin. Was pflanzt du bei euch in Winterthur an?

Miriam (lacht): Dinge, die möglichst wenig Arbeit machen, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit gedeihen. Das sind Kartoffeln, Gurken, Zucchetti, Kohlräbli, Randen, Salate, Kräuter, Rhabarber und Beeren. Jedes Jahr im Herbst überlege ich, wo ich noch mehr anpflanzen könnte. Nächstes Jahr möchte ich unbedingt ein kleines Moorbeet für Heidelbeeren und Preiselbeeren anlegen. Mir schwebt da ein kleines Hochbeet aus altem Holz vor.

Schafft ihr es, euch selbst zu versorgen?

Simon: Nein. In unserem Garten gibt es fast ganzjährig etwas zu ernten, der Speiseplan wäre aber etwas gar eintönig. Sich nur von Gemüse zu ernähren, wäre nicht ausgewogen. Die paar Kilogramm Kartoffeln, die wir aus dem Beet holen, würden nie reichen, um unseren Kohlenhydratbedarf zu decken. Als Proteinquellen müssten wir mindestens ein paar Hühner haben, die Eier legen. Es ist schon schwierig genug, ganzjährig konsequent Schweizer Gemüse zu kaufen, vor allem im Winter. Aber wir ergänzen unseren Speiseplan täglich mit etwas aus dem Garten. Das finde ich sehr wertvoll, denn unsere Kinder lernen, was wann Saison hat.

Miriam: Im Sommer, wenn endlich die Gurkensaison in der Schweiz beginnt, essen die Kinder zwei Wochen lang ganz viele Gurken. Es ist schon etwas Besonderes, ein frisches Rüebli aus der Erde zu ziehen. Einen eigenen Garten mit Ertrag zu haben, ist super. Aber es gibt auch viel Arbeit und kann frustrierend sein, beispielsweise wegen der Schnecken oder auch dem Klimawandel, Hagel und Trockenheit.

Wie sieht euer Gartenjahr aus?

Miriam: Ich beginne im Februar mit der Gartenarbeit. Dann gibt’s aus dem Garten noch Nüsslisalat und Federkohl. Ende März schneide ich Stauden zurück und säe Stecklinge im Haus an. Im April verteile ich Kompost und lockere die Erde auf. Ab Mai spriesst es dann und ich komme mit dem Jäten kaum mehr nach.

Simon: Ich freue mich immer auf den Rhabarber Ende Mai. Im Juni gibt’s Salate und Beeren, im Juli Ringelblumen und Boretsch.

Was kann man aus Ringelblumen machen?

Miriam: Ich mache Öl draus oder trockne sie, um sie danach als Kräutersalz oder Tee zu benutzen. Das Öl kann auch zu Ringelblumensalbe weiterverarbeitet werden.

Simon: Und ich mache daraus ein Ringelblumen-Pesto. Es sieht auch auf Salaten als essbare Deko schön aus. Die getrockneten Blütenblätter nutze ich fürs Kräutersalz.

Was kommt auch auf dem Balkon oder drinnen gut?

Simon: Pfefferminze ist relativ einfach zu ziehen. Wir aromatisieren damit Wasser, streuen sie über den Couscous-Salat oder trocknen sie zu Sträusschen gebunden an einer Schur und machen daraus Tee.

Miriam: Rosmarin und Thymian sind ebenfalls gut für einen Balkon oder die Küche geeignet – je nach Sonneneinstrahlung. Ein Tipp für alle mit Garten ist der Zierfenchel. Die Pflanze zieht Schwalbenschwänze an. Die Schmetterlinge erinnern sich und kommen jedes Jahr zurück und legen dort Eier. Mit einer kleinen Oase kann man einen grossen Beitrag zur Biodiversität leisten.

Stichwort Umwelt: Wie bewusst lebt und isst die Bevölkerung in der Schweiz?

Miriam: In der «Bubble», in der wir uns bewegen, ist gesunde und nachhaltige Ernährung wichtig. Aber meine Einschätzung ist, dass das Umdenken in der breiten Bevölkerung noch zu wenig stattgefunden hat. Es frustriert mich, denn wir wissen, was wir tun müssen – und doch passiert so wenig, um unsere Umwelt zu schützen.

Simon: Ganz klar den Konsum tierischer Produkte reduzieren. Wir müssen nicht perfekt sein, aber etwas ändern. Wir müssten den Fuss schon lange auf der Bremse haben. Ein grosses Problem ist, dass die Produzenten zu wenig entlöhnt werden und keine Wertschätzung erfahren. Kleine Produzenten haben gegen die Grossen keine Chance. Und die Politik wird leider von den Grossen beeinflusst.

Was wäre ein erster Schritt?

Miriam: Mach ein Gemüseabo und konsumiere saisonale und regionale Produkte. Damit hilfst du lokalen Landwirtschaftsbetrieben. Du kannst dich auch an einer Genossenschaft beteiligen, beim Pflanzen mithelfen und deine Ernte mit nach Hause nehmen.

Simon: Wer Freude am Gärtnern hat, kann sich bei einem Garten-Projekt auch sozial engagieren (siehe Box). Gärtnern ist ein gemeinsames Thema, das verbindet. Kürzlich fragte ein Nachbar, ob er die Kürbisblätter haben dürfe, denn er geniesse diese als Salat. Wir hatten über den Gartenhag einen spannenden Austausch. Ich bin Fan von «Leaf to Roots», dem fleischlosen Pendant zu «Nose to Tail». Nichts ist Abfall, alles wird verwertet. Hast du zum Beispiel gewusst, dass du den Broccoli-Stiel schälen kannst? Das Fleisch ist zart und schmeckt nach grünem Spargel.

Wie sieht der Garten der Zukunft aus?

Simon: Ich finde Vertical Farming (Gärten an Hausfassaden) und Rooftop-Farming (Gärten auf Dächern) interessante Ansätze für die Zukunft. Besonders dort, wo noch stärker verdichtet wird. Damit müssen keine Grünflächen verschwinden.

Tavolata mit Simon Crescente und Daniela Specht

Über Miriam und Simon

Miriam ist Sozialarbeiterin und leidenschaftliche Gärtnerin – ihren grünen Daumen hat sie im Erwachsenenalter entdeckt. Simon ist Diätkoch am Spital Winterthur. Das Paar hat vier Kinder und lebt so nachhaltig wie möglich. Was Miriam im eigenen Garten anpflanzt, verarbeiten die beiden in der Küche.

Simon absolvierte sein 1. Lehrjahr bei einem Naturkoch und lernte, aus einheimischen, saisonalen Produkten raffinierte Gerichte zu kochen. Er betreibt auch eine Sauerteigbäckerei im Quartier und spielt in zwei Punk-Bands.

 

Miriams Lieblingsrezept: Krautstiel-Kimchi 

Ergibt 2 Gläser à 6 dl

  • 750 g Krautstiel
  • 150 g Meersalz
  • 1 l Wasser
  • 2 Zwiebeln

Würzpaste

  • 1 EL Reismehl
  • 60 g Chilipulver
  • 5 Knoblauchzehen
  • 20 g Ingwer
  • 20 g Zucker
  • 4 EL Sojasauce

Vorbereitung:

  • Krautstiel waschen und quer zum Stiel her ca. 0,5 cm dicke Streifen schneiden.
  • Salz und Wasser in eine grosse Schüssel geben. Krautstiel beigeben, gut mischen, dabei Gemüse in der Salzlake leicht kneten. Das Gemüse soll knapp mit Wasser bedeckt sein, evtl. wenig Wasser ergänzen. 3 bis 4 Stunden einweichen.
  • Zwiebeln halbieren und in Streifen schneiden.
  • Knoblauch und Ingwer fein hacken. Mit restlichen Zutaten der Würzpaste gut mischen.

Zubereitung:

  • Krautstiel abgiessen und zurück in die Schüssel geben. Mit kaltem Wasser leicht abwaschen und nochmals abgiessen. Den Krautstiel gut abtropfen lassen und ausdrücken.
  • Nun alle Zutaten miteinander mischen. Alles gut durchkneten.
  • Das marinierte Gemüse in ausgekochte Gläser drücken. Möglichst ohne Luftblasen bis 2 cm unter den Rand füllen und mit Deckel verschliessen. Die Gläser an einem vor Licht geschützten Ort bei Zimmertemperatur 3 Tage fermentieren lassen. Deckel danach abnehmen und die entstandenen Gase entweichen lassen. Wenn das Kimchi genug sauer ist, zum Lagern in den Kühlschrank stellen.
  • Falls es noch zu wenig sauer ist, weiter bei Zimmertemperatur fermentieren.
  • Gekühlt hält es sich mehrere Wochen.

 

Simons Lieblingsrezept: Randen-Gerstotto

  • 50 g Zwiebel
  • 5 g Rapsöl
  • 250 g Randenknolle
  • 75 g Rollgerste
  • 3 dl Wasser
  • 5 g Salz oder Gemüsebouillon
  • Pfeffer
  • Einige Zweige Rosmarin und Thymian
  • 100 g Erbsen tiefgekühlt
  • 50 g Geriebener Käse oder pflanzliche Alternative (z.B. Nussmesan)
  • Frischer Meerrettich, Sonnenblumenkerne (geröstet), getrocknete Ringelblumenblüten

Vorbereitung:

  • Falls die Randenknolle noch Stiel und Blätter dran hat, diese waschen und in feine Streifen schneiden.
  • Rande schälen. Schale in 6 dl Wasser aufkochen und mit Salz oder Gemüsebouillon würzen. Abpassieren.
  • Rande in 0,5 cm grosse Würfel schneiden.
  • Zwiebel fein schneiden, Kräuter hacken.

Zubereitung:

  • Rapsöl in einer Pfanne erhitzen, Zwiebeln, Randenwürfel und Stiel dazu geben und glasig dünsten. Gerste dazu geben und mit dem selbst gemachten Randenfond aufgiessen.
  • Ca. 25 Minuten leicht sieden lassen und bis zur gewünschten Konsistenz reduzieren.
  • Kurz vor Schluss die Erbsen und Kräuter dazugeben. Mit Pfeffer, Salz und Käse (oder Alternative) abschmecken.
  • Auf einem Teller anrichten, frischen Meerrettich darüber reiben und mit gerösteten Sonnenblumenkernen, Randenblättern und Ringelblumenblüten garnieren.

 

Wo kann ich mitmachen?

An vielen Orten gibt es Gemeinschaftsgärten, Zwischennutzungen und Urban-Gardening-Projekte. Freuen Sie sich auf den Frühling!

  • HEKS Neue Gärten bietet Migrantinnen und Migranten die Möglichkeit, zusammen Gemüse anzupflanzen und Deutsch zu lernen. Die Organisation sucht freiwillige Mitarbeiter*innen mit grünem Daumen, die ihr Wissen weitergeben oder Lust haben, eine kleine Gruppe Kinder im Garten zu betreuen. www.heks.ch
  • In den «Jardins du Mycélium» in La Chaux-de-Fonds trifft man sich zum gemeinsamen Gärtnern. Der grosse Garten lädt dazu ein, sich zu entspannen, mit den Händen in der Erde zu wühlen und anderen Menschen mit ähnlichen Interessen zu begegnen. jardins.reseaumycelium.ch
  • Die landwirtschaftliche Genossenschaft SEMiNTERRA! auf der Magadinoebene produziert lokales, saisonales und frisches Biogemüse, Setzlinge und andere Produkte. Wer will, kann mithelfen oder eine der Veranstaltungen zu Landwirtschaft, Ernährung und Nachhaltigkeit besuchen. seminterra.ch
  • Die Associazione Amélie stellt Familien in Pregassona bei Lugano Gemüsegärten zur Verfügung. Hier gärtnern Menschen jeden Alters gemeinsam – vom Jugendlichen bis zur Seniorin. www.associazioneamelie.ch/progetti
  • Mit dem Projekt Gartenkind ermöglichen Bioterra und Migros-Engagement es Kindern zwischen vier und elf Jahren, selber Gemüse zu ziehen und die Natur zu beobachten. Sie lernen alles über die Kreisläufe der Natur und pflanzen Gemüse, Beeren und Kräuter selbst an. migros-engagement.ch/gartenkind
  • Die Gemüse Ackerdemie stärkt das Bewusstsein für eine saisonale, regionale Ernährung. An Primarschulen in der ganzen Schweiz entstehen Anbauflächen für Gemüse. Die Kinder lernen, fachgerecht Setzlinge zu pflanzen, ein Gemüsebeet zu pflegen und zu jäten. Das Projekt wird vom Migros-Pionierfonds unterstützt. acker.co/gemueseackerdemie-schweiz

 

Apps, Tricks & Helferlein

  • Nachhaltiger einkaufen und Food Waste vermeiden: Es gibt an vielen Orten Unverpackt-Läden, wo Reis, Zucker oder Müesli ins mitgebrachte Gefäss abgefüllt werden können.
  • Auch in Hofläden und auf dem Bauernmarkt finden sich frische, gesunde Produkte aus der Region zu fairen Preisen. In den Äss-Bar-Bäckereien gibt es Brot von gestern, das noch immer ausgezeichnet schmeckt. www.aess-bar.ch
  • Auf Apps wie «Too Good to Go» bieten Bäckereien, Hotels, Restaurants und Supermärkte fertige, einwandfreie Menüs an, die man günstig kaufen und abholen kann. www.toogoodtogo.ch
  • Madame Frigo hat in der ganzen Schweiz öffentlich zugängliche Kühlschränke aufgestellt. Hier können einwandfreie Lebensmittel, die man nicht konsumiert, getauscht werden. www.madamefrigo.ch
  • Weltweit direkt ab Hof einkaufen: Das Schweizer Unternehmen Gebana kauft lokalen Kleinbauern direkt Kakao, Nüsse oder Bananen ab Hof ab. Die Grosspackungen können zum Beispiel mit Nachbar*innen geteilt werden. www.gebana.com